Schiess Robert - Auswanderer

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Von Speicher ans andere Ende der Welt

Das Abenteuer lockt

Eigentlich wollte der junge Robert Schiess für drei Jahre in die Ferne reisen, bevor er die Werkstatt seines Grossvaters übernehmen sollte.

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1913 geboren, Stiefsohn der «Traube»-Wirtin Ida Schiess-Gross in Speicher, hatte Robert eine Lehre als Schlosser absolviert.
Als 23-jähriger war er 1936 mit einer Stelle «im Sack» nach wochenlanger Seereise nach Ecuador gereist, um dort im Auftrag einer Schweizer Firma beim Bau einer neuen Eisenbahnlinie mitzuwirken. Weil man bei der Ankunft des Schweizers wieder einmal den Präsidenten Ecuadors gestürzt hatte, wurde aus dem Eisenbahnbau nichts, was den jungen Mann weiter nicht verdross. Er fand als tüchtiger Facharbeiter sofort eine Beschäftigung als Holzfäller für Balsaholz im Malaria verseuchten Regenwald.
Als er prompt daran erkrankte, versuchte er diese mit Naturheilmitteln der Indios zu behandeln. Da traf er auf einen Deutschen, der ihm den Rat gab, nach Galapagos zu reisen, um dort gesund zu werden. Er habe auf Santa Cruz ein Haus, das er gerne benützen könne. Das ungewöhnlich trockene Klima auf der Insel wäre für ihn besser geeignet als jenes auf dem tropisch feuchten Festland.

Robert Schiess nahm das Angebot gerne an und reiste auf nach Santa Cruz im Pazifischen Ozean. Bei der Ankunft des jungen Appenzellers lebten nur rund 60 Bewohner auf dieser Insel, davon einige Abenteurer oder Aussteiger aus diversen Ländern Europas. Nach drei Monaten Aufenthalt und dem Genuss unzähliger Zitrusfrüchte verschwanden die Malariaanfälle mit Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Durchfällen für immer.

1000 km vom Festland entfernt, wurde Puerto Ayora auf Santa Cruz das neue Domizil von Robert Schiess. Die Insel ist geprägt durch erloschene Vulkane, hügelige Landschaften sowie eine üppige Flora und Fauna. Die höchste Erhebung der 43km langen und 31km breiten Insel ist der 864 m hohe Cerro Crocker. Einmal jährlich verkehrte ein Postschiff, um die Bewohner mit dem Notwendigsten zu versorgen.

Galapagos

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Die außerordentliche und einmalige Flora und Fauna der rund 120 Galapagosinseln und Kleinstinseln gehören zum geschützten Weltnaturerbe der UNESCO. Die Inselgruppe liegt genau auf dem Äquator und hat zwischen Dezember und Mai ein tropisch feuchtes, in der kühleren Jahreszeit für die Lage ein eher trockenes Klima. Grund dafür ist der relativ kühle Humboldt-Strom und die Einwirkung der südlichen Passatwinde. Die Temperaturen schwanken während des ganzen Jahres zwischen 25 und 30 Grad.

Etwa 97 % der Fläche der Inseln und 99 % der sie umgebenden Gewässer stehen unter strengem Naturschutz. Die landwirtschaftliche und fischereiliche Nutzung, sowie das Betreten der Inseln und das Befahren der Gewässer sind streng reglementiert und werden durch die Nationalparkverwaltung mit Sitz in Puerto Ayora auf Santa Cruz kontrolliert. Im Januar 2022 wurde das Meeresschutzgebiet um das 60.000 km² große Hermandad auf 198.000 km² (fast 5x so gross wie die Schweiz) erweitert. Damit ist es das zweitgrößte Meeresschutzgebiet der Welt.

Früher dienten die Galapagos-Inseln als Schlupfwinkel für Piraten und als letzte Station für Walfänger, bevor sie die lange Seereise in den Südpazifik unternahmen. Zugleich waren die Galapagos-Inseln eine Art «Exil» für ecuadorianische Verbrecher. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen auch Flüchtlinge, Abenteurer und solche, die der Zivilisation den Rücken kehren wollten. Die wenigen, denen es gelang, auf Galapagos Fuss zu fassen und sich eine Existenz aufzubauen, haben hier eine dauerhafte Heimat gefunden. Sie leben auf San Cristobal, Santa Cruz, Isabela und Floreana.

Eine neue Heimat gefunden

Robert Schiess um 1985

Robert Schiess gefiel es so gut auf Santa Cruz, dass er beschloss, dort zu bleiben. Er kaufte eine Kaffeeplantage, veräusserte diese bald wieder, weil er vom Erfolg nicht überzeugt war und zog an die Küste hinunter. Dort baute er sich direkt am Meer eine einfache Holzhütte.

Erneut im erlernten Beruf arbeitend, erwarb er sich zusätzlich eine grössere Farm auf dem «Berg oben», wo er begann das Land zu roden und Schlachtvieh zu züchten. Gleichzeitig setzte er entgegen der Meinung der Inselbewohner einen Zedernwald mit 3000 Bäumen, um sein Grundstück besser vom dauernden Wind zu schützen. Es sollte sich weisen, dass dies eine gute Investition war, denn später konnte er ernten und das auf den Inseln rare Bauholz liefern.

Das Alleinsein musste ihm dennoch schwergefallen sein und so liess der jetzt 41 – jährige Robert in der Zeitschrift «Sie und Er» ein Kontaktinserat drucken:

«Suche Frau mit Traktor»

Helen Hunziker, geboren 1922, aus dem Oberaargauischen Wynau, hatte mit 34 Jahren den Traum einer Familie fast aufgegeben. Ihre Schwestern fanden jedoch, dass sie endlich unter die Haube kommen müsse, und legten ihr das Kontaktinserat vor. Damit sie etwas über den künftigen Ehemann erfahren konnte, reiste sie nach Speicher. Die Erkundungen und das Kennenlernen der Familie Schiess überzeugten Helen dermassen, dass sie 1956 nach Guayaquil reiste, wo sie Robert heiratete. Als Mitgift brachte sie auch das Geld für den Traktor mit.

1957 wurde Maria Susana, 1959 Juan Roberto (Hans) und 1962 Peter geboren. Die drei Kinder sind blond, reden Schweizerdeutsch und Spanisch, für die Einheimischen sind sie also richtige Exoten.

In Santa Cruz selber gab es zwei Schulen für die Unter- und Mittelstufe. Die eine wurde von der katholischen Kirche geleitet, die andere war staatlich organisiert. Für eine höhere Ausbildung mussten die Inselkinder auf das Festland nach Quito wo es Gymnasium und Universität gab.

In den 1970er Jahren bauten sich die Robert und Helen auf ihrem grossen Grundstück an den Abhängen des Vulkans Cerro Crocket, ein Haus. Während eines ganzen Jahres trugen Esel alles Baumaterial auf ihrem Rücken hinauf. Für einen den Weg auf 600 m. ü. M. betrug der Fussmarsch 4 Std.; ebenso lange dauerte der Rückweg. Das Haus bekam vier Zimmer, eine Küche sowie eine Dusche, wobei man sich letztere als alte Konservenbüchse mit Löchern vorstellen kann. Aber schliesslich war man hier oben in der Wildnis, wo auch die berühmten Galapagos-Riesenschildkröten leben, nicht so anspruchsvoll wie in der schweizerischen Heimat. Hier auf dem Berg hielten sich Robert und Helen viel lieber auf als unten an der Küste, wo es immer hektischer und lärmiger wurde. Zu Beginn führten sie ein recht armseliges Leben, was sich aber im Laufe der Jahre ergab.


Das Holzhaus am Meer wurde nicht mehr benutzt und fiel allmählich dem Termitenfrass zum Opfer.

Ein Grossbetrieb

Die Farm «Los Alpes» hatte sich auf 400ha vergrössert. 150ha davon waren Weidefläche, wobei gegen deren Verbuschung laufend angekämpft werden musste.

1972 sind der 59-jährige Robert und die 50-jährige Helen Schiess Besitzer einer 250 Stück grossen Viehherde der Zebu-Rasse «Bramann». Diese Rinderrasse ist besonders an die tropisch heißen Bedingungen angepasst und Insektenresistent. Zudem besitzen sie 20 Milchkühe, vier Maultiere, zehn Pferde und einige Hühner. Die Milch der Kühe verarbeitete der umtriebige Appenzeller zu Käse und Joghurt, für die er guten Absatz fand.

Die Zebu-Rinder züchtete der «Suizo», um die Bevölkerung auf dem Festland mit Fleisch zu beliefern. Dort war das fettarme, zarte und ohne Medikamente behandelte Fleisch von Schiess sehr begehrt. Monatlich konnte er rund 60 Rinder liefern. Diese wurden kurzerhand ins Wasser getrieben und erreichten dann schwimmend das Transportschiff.

Genügend Wasser für seinen Tiere zu bekommen war schwierig, denn auf den Abhängen des erloschenen Vulkans konnte Schiess keine Quelle finden. Aber für den Selfmademan war das kein unüberwindliches Problem, er hob ein fast 10m tiefes Loch aus worin sich versickerndes Wasser aus dem Kratertrichter sammeln konnte. Beim Haus entstand eine mehrere m3 grosse Zisterne für Trinkwasser.

Robert glaubte zeitlebens daran, einen verschwunden, riesigen Piratenschatz finden zu können. Diverse alte Karten und Beschreibungen trieben ihn an, mit Sonargeräten die diversen Inseln zu erkunden. Leider ohne Erfolg.

So lebte man 1972 auf Santa Cruz

Auf Santa Cruz lebten 1972 bereits 1800 Menschen, wobei 50 davon eine Farm besassen. Die Einheimischen hatten gegenüber den «Suizos» eine ganz andere Lebensphilosophie. Hier arbeitete man, um zu leben, während die Einwanderer lebten, um zu arbeiten.

Man führte ein beschauliches Leben. Gearbeitet wurde nur morgens. Dann folgte die Mittagssiesta, die allen heilig ist. Abends traf man sich in einer der drei Wirtschaften zum Bier. Rund 20 Prozent der Einkünfte wurden so ausgegeben. Früchte und Gemüse baute jede Familie selbst an.

Für die medizinische Betreuung stand ein Spital mit einem Arzt zur Verfügung. Dieser hatte in Guayaquil innert 14 Tagen das Diplom eines Chirurgen erworben. Einen Blinddarm zu operieren, dürfte er gerade noch geschafft haben. Die meisten anderen Krankheiten heilte man mit Penizillin und Vitaminen. Schwerkranke kamen ins Spital aufs Festland. Zweimal in der Woche wurde geschlachtet, wobei man morgens um 3 Uhr aufstehen musste, um gegen 5 Uhr das Fleisch zu erhalten. Die Preise waren paradiesisch. Für ein Pfund Rindsfilet bezahlte man sage und schreibe 35 Rappen! Die Schlachtabfälle kippte man kurzerhand ins Meer, wo sich in Sekundenschnelle Haie daran gütlich taten und alles in Kürze vertilgten.

1970 gab es erstmals eine Wasser- und Stromversorgung, was vor allem das Verdienst des Appenzellers sein dürfte. Die Regierung beteiligte sich an diesem Projekt nur mit einer kleinen Summe. Die meisten Arbeiten wurden von Bewohnern von Puerto Ayora selbst ausgeführt. Mit einer straffen Führung gelang es Schiess, den Betrieb des Wasser- und Stromnetzes aufrechtzuerhalten. Um 23 Uhr ging der Strom aus, und wer noch nicht im Bett war, musste sich mit Kerzenlicht behelfen. Kostbarer Besitz jeder Familie, auch der Ärmsten, waren Taschenlampe und Transistorradio.

Uneigennütziger Einsatz

Die fachlichen Qualitäten des Appenzellers waren sehr gefragt. Im Volk war man um den unbestechlichen Schweizer froh, der keine Rücksicht auf Verwandtschaft zu nehmen brauchte, wie es in Lateinamerika sonst üblich ist. Mit seiner uneigennützigen Art half er, wo er nur konnte. Als Dank wurde ihm in Puerto Ayora die Strasse «Roberto Schiess» gewidmet. Die ecuadorianische Staatsbürgerschaft hingegen wurde Robert und Helen nie verliehen. Viel schlimmer noch: Sohn Hans musste sich für die Eltern verbürgen, damit sie auf Galapagos, resp. in Ecuador bleiben konnten. Die Kinder, wie auch Grosskinder der Familie Schiess, welche in Ecuador geboren wurden, bekamen automatisch einen ecuadorianischen Pass und sind deshalb schweizerisch-ecuadorianische Doppelbürger. Dies gilt auch für Judith Fretz, der Ehefrau von Hans.

Der Auswanderer hätte sich auch nicht mehr gut in das tägliche schweizerische Industrieuhrwerk einordnen können. Ihm reichten die wenigen Besuche in der Schweiz, um festzustellen, dass das Leben auf Galapagos besser zu ihm passte.

Robert Schiess starb 1989 mit 76 Jahren. Helen lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 2012 alleine auf ihrer Farm auf «Los Alpes» und betreute mit Hilfe von Sohn Peter die inzwischen weniger gewordenen Rinder. Sie durfte noch mit grosser Freude miterleben, wie ihr Grosskind Claudia Elena Schiess-Fretz 2011 zur «schönsten Frau Ecuadors» und zusätzlich zur «Miss Continente Americano 2011» gewählt wurde.

Robert und Helen Schiess-Hunziker wurden auf dem Friedhof in Bellavista, Isla Santa Cruz beigesetzt.

Der Schiess-Clan wächst

Tochter Susana hat in Quito studiert und ist nach Galapagos zurückgekehrt, wo sie ein Restaurant betreibt, in dem auch Rösti angeboten wird.
Sohn Hans machte seine Berufsausbildung zum Radio- und Fernsehelektriker in der Schweiz, wo er auch seine Frau Judith Fretz kennenlernte. Nach der Rückkehr mit seiner Judith eröffnete er in Santa Cruz ein Elektro- und Fernsehgeschäft, spezialisierte sich dann auf Navigations-, Kommunikations- und Sicherheitssysteme. Zudem bauten sie das Hotel Cucuve, welches die Familie heute noch betreibt.
Sohn Peter betreibt einen Treibstoffhandel und macht Dieseltransporte, zudem führt er mit seiner Frau Susana Valverde das Restaurant Bahia Mar in Puerto Ayora.

Die drei Geschwister sind gemeinsame Besitzer der Farm "Los Alpes", wo nur noch Milchwirtschaft betrieben wird. Geleitet wird der Farmbetrieb durch Peter. Hans, als ältester Sohn der Familie, musste seinem Vater am Totenbett versprechen, dass die Farm für immer in der Familie bleibt und niemals verkauft wird. Sie würde in Notfällen dazu dienen, die Familie zu ernähren. Robert Schiess schien ein echter Visionär gewesen zu sein.

Während der Corona - Pandemie hat sich seine Weitsicht ausbezahlt, denn die Enkel Roberta, Tochter von Peter und ihr Cousin Nicolas, Sohn von Susana hatten angepflanzt und konnten den inzwischen auf über 20 Personen angewachsenen Schiess-Clan mit Gemüse, Früchten, Fleisch, Milch und Eiern beliefern.

Der Hauptteil der Familie arbeitet, wie die meisten Einwohner Galapagos, im Tourismus- und Dienstleistungsbereich, oder als Guides im Galapagos-Nationalpark.


Text: Paul Hollenstein 2022
Quellen: Wikipedia, Gelbes Heft 1973, Grundbuchamt Speicher, Staatsarchiv AR
Video: VHS-Kassette um 1986, Quelle unbekannt
Fotos: Judith Schiess-Fretz Galapagos, Heinz und Manuela Vetsch Speicher