Graf Ernst – Ein Leben für die Musik

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Uneingeschränkte Hingabe an die Musik – das charakterisiert Ernst Grafs Leben und Wirken. Der 1907 geborene Dirigent des Musikvereins Speicher hat sich grosse Verdienste um die Verbreitung der Brass - Band - Musik in der Schweiz erworben.

Eine musikalische Familie

Ernst Graf 1957

Ernst Graf wird als drittes Kind von Johannes und Berta Graf-Schmid am 24. November 1907 geboren. Er wächst in der Kohlhalde auf. «Musikante Grofs» nennt man in Speicher das Haus, in dem der Vater als Handsticker seinem Verdienst nachgeht. Johannes Graf, mit reichlich Talent gesegnet, tritt 1872 bereits als 18-Jähriger der Blechmusikgesellschaft Speicher bei. 1909 übernimmt er den Taktstock der 1887 gegründeten Musikgesellschaft Speicher.

Dass sich eine Begabung, die den Vater auszeichnet, auch auf seine Kinder überträgt, trifft im Speziellen auch auf Sohn Ernst zu. Als 10-Jähriger hört er Musikanten der Heilsarmee, die in Speicher spielen. Der schöne weiche Klang der Cornets tut es ihm sofort an und lässt ihn nicht mehr los. Es drängt ihn förmlich, in die Welt der Blasmusik einzutauchen. So lernt er im Alter von elf Jahren heimlich Cornet spielen. Er lässt nicht locker, bis er ein Liedchen spielen kann. Der Vater ist erfreut, wie gut sein Sprössling das Instrument schon beherrscht und fängt an, ihn zu fördern. Selbstverständlich kann es nicht ausbleiben, dass Ernst schon bald die Reihen der dörflichen Musikgesellschaft verstärkt.

Mit 22 Jahren musikalischer Leiter

Musik Räfis-Burgerau 1931

Im Anschluss an die Schule tritt Ernst Graf eine Lehre als Stickereientwerfer an. Parallel dazu pflegt er seine musikalischen Vorlieben, die sich auch darin äussern, dass er nicht nur in der Blasmusik spielt, sondern auch noch Violinunterricht nimmt.
Nach dem Lehrabschluss findet er eine Arbeitsstelle in Trübbach, wo er der örtlichen Musikgesellschaft beitritt. Diese wählt ihn 1929, als gerade mal 22-jähriger Mann, zu ihrem Dirigenten. Weitere Direktionen übernimmt er auch bei Musikvereinen in Räfis-Burgerau und Eschen FL. 1934 muss Vater Johannes Graf aus gesundheitlichen Gründen das Dirigentenamt abgeben. Die Nachfolge des Dirigenten bleibt jedoch in der Familie, als Ernst Graf nach Speicher zurückkehrt und sich nun auf die Leitungsfunktion im Heimatdorf konzentriert.

Auf nach Nordirland

Ernst und Anna 1935

Die Weltwirtschaftskrise bewegen das frisch vermählte Ehepaar Ernst und Anna Graf-Bartholet. In Nordirland findet Ernst berufliche Perspektiven, und schon wenige Monate nach der Vermählung entschliesst sich das junge Paar zur Auswanderung. Den Dirigentenstab übergibt Ernst seinem jüngeren Bruder Karl. In einem Betrieb der Leinenindustrie in Lurgan, einer Kleinstadt, sechzig Kilometer südwestlich von Belfast, tritt Ernst die Stelle eines Stickereizeichners an. Hier lebt sich die junge Familie Graf gut ein. Schon bald erweitert sich die junge Familie mit Karl (1936), Erwin (1937), Frederick (1939) und James (1940). In der Familie wird englisch gesprochen, damit die Buben keine Verständigungsprobleme mit den Nachbarskindern bekommen.

Musik verbindet

Schon im Jahr der Auswanderung findet man Ernst Graf als Flügelhornisten in der Willofield Silver Band von Belfast und als Dirigenten der Band von Portadown, einem Nachbarort Lurgans. 1938 ist er massgeblich an der Gründung der Lurgan Military Band beteiligt, die ihm gleich auch den Posten des musikalischen Leiters anvertraut. Als Ernie Graf beziehungsweise Graff gibt er den Takt vor. Zusätzlich leitet er auch das Lurgan Variety Orchestra. 1939 übernimmt er zusätzlich die Leitung der Willofield Silver Band. Bei so viel Musikalität kann es nicht ausbleiben, dass die vier Söhne ab einem gewissen Alter ebenfalls mit Instrumenten vertraut gemacht werden.

Gesellschaftlicher Aufstieg und Heimweh

Ferien in Speicher 1946

Als Ernst Grafs Patron zum Kriegsdienst eingezogen wird, macht sich der junge Familienvater mit gutem Erfolg selbständig. Das und seine musikalische Karriere tragen ihm beachtliches Ansehen ein, davon profitiert auch seine Frau Anna. Sie, die in der Schwendliger Aachmühle in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, freundet sich mit einer Lehrerin an und wird von dieser in die örtliche Gesellschaft eingeführt. Trotz guter Integration und beruflichem Erfolg lässt Ernst der Gedanke ans Appenzellerland nie ganz los. In plagt das Heimweh, welches nur dank der Musik auszuhalten ist. Im Juni 1946 macht die Familie Ferien in Speicher, wo es den Söhnen gut gefällt, dass er seine Frau Anna zu einer Rückkehr überzeugen kann.

Rückkehr

1947 verlässt Familie Graf Nordirland und nimmt wieder in Speicher Wohnsitz, wo er als selbständiger Stickereientwerfer sein Brot verdient. Ihre erste Unterkunft ist im Haus von Gemeindeschreiber Jakob Bruderer im Herbrig. Später kann Ernst Graf jenes Haus im Röhrenbrugg erwerben, das zur definitiven Bleibe wird. Die Verbindung nach Nordirland reisst jedoch nie ganz ab. Verschiedentlich kehrt Ernst Graf an seine einstige Wirkungsstätte zurück, besucht Freunde und bringt bei seiner Rückkehr meist Instrumente mit. Seine persönliche Bilanz über die zwölf Jahre in Nordirland: Eine wesentliche Verfeinerung in der Bildung der Tonkultur, bessere Atemtechnik und Zungenschlag, und eine Verbesserung der Dirigiertechnik, sind Fortschritte, die er schriftlich festhält. Oder wie es Ernst Graf ausdrückt: «Musik muss Seele haben!»

Neuer Wind

Musikverein Harmonie 1950
Ernst mit seinen Söhnen 1957

Am 1. Februar 1947, ein paar Wochen vor seiner Rückkehr wird Ernst Graf an der HV des MVS zum neuen Dirigenten gewählt. Dies wird für den Verein, wie auch für Ernst Graf wegweisend sein. Der Musikverein musiziert noch in Harmoniebesetzung, also auch mit Holzblasinstrumenten. Der neue Leiter hat jedoch die feste Absicht, auch in Speicher Musik englischen Zuschnitts zu machen. Knapp einen Monat nach der ersten Probe erkennt man am Muttertags-Gottesdienst bereits seine Handschrift. Dies zeigt sich auch bei den Unterhaltungsanlässen im Herbst 1947, welche wegen des grossen Zuspruchs gleich dreimal durchgeführt werden. Für die vier Graf-Buben beginnt mit dem Herzug nach Speicher ein völlig neuer Lebensabschnitt. Da ist nicht nur die deutsche Sprache, in die das Quartett erst hineinfinden muss – auch wenn Frederick, der in Speicher in die 2. Klasse eintritt, freimütig gesteht, sie hätten «handom» fluchen gelernt. Auch vom Schreiben mit Tinte und Feder in Nordirland mussten sie hier auf Griffel und Schiefertafel umstellen.

Mit dem Wechsel von Harmonie auf englische Besetzung erhält Graf den Auftrag, bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in Nordirland Occasionsinstrumente zu kaufen. Die Spieler haben Freude am Klang der weissen, englischen Instrumente, vom abrupt zusammengebrochenen Sigolinverbrauch ganz zu schweigen. Ab 1957 ist die Umstellung auf britische Besetzung vollzogen.

Im Dienste der Gemeinde

Trotz grossem Engagement für die Musik findet Ernst Graf noch Zeit, sich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen. Er wird 1950 als Nachfolger von Otto Lindenmann in den Gemeinderat gewählt, dem er bis 1959 angehört. Von 1948 bis 1953 übt Ernst Graf das Amt des Schulpräsidenten aus. Zudem stellt er sich der Kirchenvorsteherschaft zur Verfügung. Gemeinsam mit Eugen Hutterli und seinem Bruder Karl gestaltet Ernst Graf jene Sonnenuhr, die am Speicherer Zentralschulhaus den Lauf der Stunden anzeigt.

Auf dem Weg zum Gipfel

Ernst Graf arbeitet fleissig an der Verbesserung der Spielkultur. Unzählige Auftritte sind wie ein Vorspiel zum Ereignis, das als absoluter Höhepunkt in die Vereinsgeschichte eingehen und Graf in der schweizerischen Blasmusikszene Bewunderung eintragen wird: die Teilnahme am Eidgenössischen Musikfest vom 12./13. Juni 1971 in Luzern. Im grossen Saal des Luzerner Kunsthauses führt Ernst Graf seine in neuen Uniformen erscheinende Formation durch das Selbstwahlstück «Third Rhapsody on Negro Spirituals» von Eric Ball und durch das Aufgabenstück «Symphony of Marches» von Gilbert Vinter.
Was die Zuhörerschaft präsentiert bekommt, ist von derartiger Qualität, dass eine regelrechte Begeisterungslawine losgetreten wird. Enthusiastischer Applaus brandet auf, und sogar die Kampfrichter erheben sich von ihren Stühlen. In der Bewertung erhalten die Speicherer ein «Vorzüglich», das lediglich an sechs weitere Vereine vergeben wird.
Im Nachgang zum Eidgenössischen stellt man sich die Frage, weshalb in Speicher ein solch musikalisch hohes Niveau erreicht wird. In der Schweizerischen Blasmusikzeitung erscheint unter dem Titel «Das Rätsel um den Musikverein Speicher» ein Artikel, in dem es unter anderem heisst: «Wieso kann die kleine, 33 Mann starke Dorfmusik von Speicher beim Eidgenössischen Musikfest in Luzern mit den besten und grössten Blasorchestern der Schweiz konkurrieren? Mitentscheidend sei wohl die Wesensart von Ernst Graf, welche die Musikanten bei der Stange halten kann, ohne den Bogen zu überspannen.

Eine Uraufführung

1972 wendet sich der Musikverein an den Luzerner Dirigenten und Komponisten Albert Benz mit der Bitte, ob er zu Ehren der 25 – jährigen Dirigententätigkeit Grafs ein Werk komponieren könne. Was entsteht, ist die technisch äusserst schwierige «Meditation for Euphonium and Brass Band». Uraufgeführt wird das Werk im April 1972 in der evangelischen Kirche Speicher im Beisein des Komponisten. Albert Benz bedankt sich hinterher in einem Brief herzlich «für die prächtige Wiedergabe der Meditation» und gratuliert seinem Kollegen mit den Worten: «Was Sie da in den vielen Jahren aus Ihrer ‹Dorfmusik› gemacht haben, ist wirklich grossartig.»

Bei Wysel Gyr im TV

Bei der landesweiten Resonanz, die der MVS auslöst, kann es nicht ausbleiben, dass man auch beim Schweizer Fernsehen aufmerksam wird. Just am Landsgemeinde Samstag 1974 ist es so weit: In Wysel Gyrs Sendung «Für Stadt und Land» wird Ernst Graf und seinem Korps aus medialer Sicht sozusagen die Krone aufgesetzt.


Rücktritt mit 73 Jahren

Ehrendirigent Ernst Graf 1987
"Alte Garde Winterthur" 1981

Im Mai 1980 geht dann zu Ende, was 1934 auf Zeit und 1947 definitiv begonnen hat: Ernst Graf gibt im Alter von 73 Jahren den Taktstock an seinen Sohn Karl weiter.
Beim Schlusskonzert ist der Buchensaal übervoll. Der MVS hat als Konzertmotto «Ernst Graf, wir danken Dir» gewählt, verbunden mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft. Ernst Graf freut ganz besonders, dass bei den zahlreichen Dankes- und Grussadressen auch eine aus Nordirland dabei ist und erst noch persönlich überbracht wird: Frank Richardson, Dirigent einer Band, die Ernst Graf bis 1947 leitete, würdigt die Verdienste des Ausserrhoders. In den Medien ist im Nachgang zum Schlusskonzert vom Abgang eines grossen Dirigenten die Rede.



Ernst Graf wäre nicht Ernst Graf, wenn er sich nun einfach zur Ruhe setzen würde. Beim MVS hilft er aus, wenn Not am Mann ist. Einige Zeit leitet er noch die Bürgermusik Untereggen sowie die «Alte Garde Winterthur». Eine grosse Ehre wird ihm zuteil, als er mit die Leitung des Landsgemeinde Gesangs 1983 in Hundwil, 1984 in Trogen und 1985 wieder in Hundwil betraut wird.



Hobby

Die gewonnene Zeit nutzt Ernst Graf, um seinem malerisches Talent zu frönen. Seine Aquarelle von Natur und Landschaft, wie auch seine Häuser- und Dorfansichten zeigen bei ihrer präzisen Wiedergabe eine «luftig-leichte Duftigkeit».


Ein Leben für die Musik geht zu Ende

Ernst Graf behält seine Vitalität und seine geistige Frische bis ins hohe Alter. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zwingt ihn jedoch zum Übertritt ins Altersheim Krone in Rehetobel. Dort bringt der Musikverein seinem Ehrendirigenten einen Tag nach dessen 85. Geburtstag ein Ständchen. Es ist der 25. November 1992. Die Musikantinnen und Musikanten sind gerade daran, ihre Instrumente wieder zusammenzupacken, als sie die Nachricht erhalten, dass Ernst Graf soeben entschlafen sei.
Die Kunde von seinem Tod verbreitet sich in Windeseile, und sein Hinschied wird auch 45 Jahre nach seinem Wegzug aus Lurgan in der dortigen Presse registriert. Unter grosser Anteilnahme der Öffentlichkeit findet am 1. Dezember 1992 in der evangelischen Kirche Speicher die Abdankung statt.


Quellen:

Textquelle: MFL Speicher: Ernst Graf: «Musik muss Seele haben» - Autor Martin Hüsler
Text: Paul Hollenstein Januar 2024
Fotos: Diverse
Video: SRF «Für Stadt und Land» 11.5.1974 Videoschnitt: Paul Hollenstein