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===== Ostpreussen - meine ursprüngliche Heimat (2 m 10 s)=====
Video 1
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==== Historischer Hintergrund: Melker und Käser ====
==== Historischer Hintergrund: Melker und Käser ====
[[Datei:Schweizer.jpg|200px|links]]
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Ab 1712 kam es auf Grund von Missernten und Hungersnöten zu einer grossen Auswanderung von Schweizer Bauern nach Ostpreussen. Die Bedeutung der dortigen Landwirtschaft zog vor allem Käser und Melker, sogenannte  „Schweizer“, zu Tausenden an. Vor dem 2. Weltkrieg lebten und arbeiteten rund 3000 Schweizerbürger in Ostpreussen.
Ab 1712 kam es auf Grund von Missernten und Hungersnöten zu einer grossen Auswanderung von Schweizer Bauern nach Ostpreussen. Die Bedeutung der dortigen Landwirtschaft zog vor allem Käser und Melker, sogenannte  „Schweizer“, zu Tausenden an. Vor dem 2. Weltkrieg lebten und arbeiteten rund 3000 Schweizerbürger in Ostpreussen.


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=== Der Zweite Weltkrieg ===
=== Der Zweite Weltkrieg ===
==== Alles bereit für glückliche Kinderjahre ====
==== Alles bereit für glückliche Kinderjahre ====
===== Erinnerungen an die Kindheit (1 m) =====
Video 2
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Anfänglich musste mein Vater nicht einrücken, denn er wurde im Dorf als Handwerker für die Versorgung der landwirtschaftlichen Geräte benötigt. Im März 1944 jedoch wurden alle verfügbaren Männer eingezogen. Nach einer verkürzten Rekrutenschule wurde er am 4. Juli 1944 an die russische Front verlegt, wo er drei Tage später durch einen Bombenangriff an einem unbekannten Ort ums Leben kam.
Anfänglich musste mein Vater nicht einrücken, denn er wurde im Dorf als Handwerker für die Versorgung der landwirtschaftlichen Geräte benötigt. Im März 1944 jedoch wurden alle verfügbaren Männer eingezogen. Nach einer verkürzten Rekrutenschule wurde er am 4. Juli 1944 an die russische Front verlegt, wo er drei Tage später durch einen Bombenangriff an einem unbekannten Ort ums Leben kam.
Obwohl Ende 1944 auch in Ostpreussen die Lage für die Zivilbevölkerung immer schwieriger wurde, war es ihr verboten, in den Westen zu fliehen. Als die Lage für die Deutschen aussichtslos wurde, hinderte dies jedoch den Regierungschef und Gauleiter von Ostpreussen, Erich Koch, nicht daran, sich abzusetzen.  
Obwohl Ende 1944 auch in Ostpreussen die Lage für die Zivilbevölkerung immer schwieriger wurde, war es ihr verboten, in den Westen zu fliehen. Als die Lage für die Deutschen aussichtslos wurde, hinderte dies jedoch den Regierungschef und Gauleiter von Ostpreussen, Erich Koch, nicht daran, sich abzusetzen.  
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==== Die Flucht ====
==== Die Flucht ====
===== Flucht aus der Heimat (1 m 22 s)) =====
Video 3
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Die Familien Rodowski aus Sdunkeim und Banaskeim organisierten einen Treck mit Pferd und Wagen zur Flucht Richtung Westen. Die vereisten Strassen waren durch militärische Verschiebungen und durch Flüchtlinge aus östlicheren Gegenden bereits hoffnungslos verstopft. Dazu kamen Kälte, mangelnde Lebensmittelversorgung und die täglichen Angriffe der russischen Luftwaffe und Artillerie.  
Die Familien Rodowski aus Sdunkeim und Banaskeim organisierten einen Treck mit Pferd und Wagen zur Flucht Richtung Westen. Die vereisten Strassen waren durch militärische Verschiebungen und durch Flüchtlinge aus östlicheren Gegenden bereits hoffnungslos verstopft. Dazu kamen Kälte, mangelnde Lebensmittelversorgung und die täglichen Angriffe der russischen Luftwaffe und Artillerie.  
[[Datei:Flucht1.jpeg|mini|rechts|Auch wir waren so unterwegs]]
[[Datei:Flucht1.jpeg|mini|rechts|Auch wir waren so unterwegs]]
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Nach den Strapazen tagsüber versuchte der Grossvater jeweils abends eine einigermassen sichere Unterkunft in Gebäuden zu finden. Einmal hatten sie in einem Keller Unterschlupf gefunden. Die Pferde mit den Wagen blieben im Freien. Als der Grossvater in der Abenddämmerung einen Kontrollgang zu den Pferden und Wagen machte, wurde er von einer Granate getroffen. Schwerverletzt brachte man ihn in ein Lazarett, wo man ihn medizinisch versorgen konnte, doch nach zwei Tagen starb er an den schweren Verletzungen. Beim Angriff wurden auch die Pferde getötet, und die Wagen mit all den Habseligkeiten waren in Flammen aufgegangen.
Nach den Strapazen tagsüber versuchte der Grossvater jeweils abends eine einigermassen sichere Unterkunft in Gebäuden zu finden. Einmal hatten sie in einem Keller Unterschlupf gefunden. Die Pferde mit den Wagen blieben im Freien. Als der Grossvater in der Abenddämmerung einen Kontrollgang zu den Pferden und Wagen machte, wurde er von einer Granate getroffen. Schwerverletzt brachte man ihn in ein Lazarett, wo man ihn medizinisch versorgen konnte, doch nach zwei Tagen starb er an den schweren Verletzungen. Beim Angriff wurden auch die Pferde getötet, und die Wagen mit all den Habseligkeiten waren in Flammen aufgegangen.


===== Abbruch der Flucht (45 s) =====
Video 4
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==== Vorübergehende Rückkehr ====
==== Vorübergehende Rückkehr ====
Den zurück gebliebenen Frauen und Kindern blieb nichts anderes übrig, als zu Fuss in ihr Dorf zurück zu kehren. Da ihre Habseligkeiten auf den Fuhrwerken den Flammen zum Opfer gefallen waren, blieb ihnen nur noch das, was sie auf dem Leib trugen. Meine Beine seien zu kurz gewesen, als dass ich mich durch den Schnee hätte kämpfen können, deshalb wurde ich von meiner Mutter meist getragen.  
Den zurück gebliebenen Frauen und Kindern blieb nichts anderes übrig, als zu Fuss in ihr Dorf zurück zu kehren. Da ihre Habseligkeiten auf den Fuhrwerken den Flammen zum Opfer gefallen waren, blieb ihnen nur noch das, was sie auf dem Leib trugen. Meine Beine seien zu kurz gewesen, als dass ich mich durch den Schnee hätte kämpfen können, deshalb wurde ich von meiner Mutter meist getragen.  
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Video 5


===== Vertreibung aus der Heimat (1 m 33 s) =====
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[[Datei:Rodowski Berlin.JPG|150px|rechts|In Berlin in Sicherheit]]
[[Datei:Rodowski Berlin.JPG|150px|rechts|In Berlin in Sicherheit]]
[[Datei:Gertrude Gisela Klaus Berlin.JPG|150px|rechts|Berlin Tempelhof]]Sobald als möglich versuchten Mutter und ihre zwanzig Jahre alte Schwägerin, mit Hilfe des [[Kriegskinder auf Erholungsurlaub|Roten Kreuzes]] nach Familienangehörigen zu suchen. Bei der Schweizer Botschaft in Berlin erfuhren die Frauen nach und nach, wo alle ihre Verwandten gelandet waren. Hier wurde Mutter auch mitgeteilt, dass ihre Schwester Auguste auf dem Fluchtweg nach Danzig auf dem Frischen Haff durch einen Granatsplitter ein Auge verloren und am Arm schwer verletzt worden war und dass ihre damals neunjährige Tochter umgekommen war. Auch die Schwester Frieda musste den Tod ihrer zehnjährigen Tochter und des drei Monate alten Sohnes Hartmut hinnehmen.
[[Datei:Gertrude Gisela Klaus Berlin.JPG|150px|rechts|Berlin Tempelhof]]Sobald als möglich versuchten Mutter und ihre zwanzig Jahre alte Schwägerin, mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Familienangehörigen zu suchen. Bei der Schweizer Botschaft in Berlin erfuhren die Frauen nach und nach, wo alle ihre Verwandten gelandet waren. Hier wurde Mutter auch mitgeteilt, dass ihre Schwester Auguste auf dem Fluchtweg nach Danzig auf dem Frischen Haff durch einen Granatsplitter ein Auge verloren und am Arm schwer verletzt worden war und dass ihre damals neunjährige Tochter umgekommen war. Auch die Schwester Frieda musste den Tod ihrer zehnjährigen Tochter und des drei Monate alten Sohnes Hartmut hinnehmen.


Damals bestand die Möglichkeit für ehemalige Schweizer und Schweizerinnen, sich zurückbürgern zu lassen. Diese Chance wollte auch Gertrude Rodowski nicht ungenutzt lassen. Da alle Ausweise bei der Flucht verloren gegangen waren, dauerten die [[media:Formulare_Rodowski.pdf|Formalitäten]] sehr lange, vor allem auch wegen Rückfragen bei der Gemeindekanzlei Reichenbach, der Heimatgemeinde ihres Vaters Johann von Känel.  
Damals bestand die Möglichkeit für ehemalige Schweizer und Schweizerinnen, sich zurückbürgern zu lassen. Diese Chance wollte auch Gertrude Rodowski nicht ungenutzt lassen. Da alle Ausweise bei der Flucht verloren gegangen waren, dauerten die Formalitäten sehr lange, vor allem auch wegen Rückfragen bei der Gemeindekanzlei Reichenbach, der Heimatgemeinde ihres Vaters Johann von Känel.  


Glücklicherweise wurde ihr 1946 eine Stelle als Köchin im Schweizer Auffanglager in Berlin in der Nähe des ehemaligen Flugplatzes Tempelhof angeboten, die sie bis zur Abreise aus Berlin behalten konnte.
Glücklicherweise wurde ihr 1946 eine Stelle als Köchin im Schweizer Auffanglager in Berlin in der Nähe des ehemaligen Flugplatzes Tempelhof angeboten, die sie bis zur Abreise aus Berlin behalten konnte.




Die Familie Rodowski blieb bis 1949 in Berlin, wo meine Schwester und ich auch die Primarschule besuchten. In jenem Jahr verboten die Russen den Westmächten, jegliche Güter durch die von ihnen besetzte Ostzone zu transportieren. Dank ihren Transportflugzeugen, den sogenannten „Rosinenbombern“, konnten die Westmächte Westberlin weiterhin versorgen.
Die Familie Rodowski blieb bis 1949 in Berlin, wo meine Schwester und ich auch die Primarschule besuchten. In jenem Jahr verboten die Russen den Westmächten, jegliche Güter durch die von ihnen besetzte Ostzone zu transportieren. Dank ihren Transportflugzeugen, den sogenannten „Kartoffelbombern“, konnten die Westmächte Westberlin weiterhin versorgen.


[[Datei:Kartoffelbomber.jpg|mini|rechts|"Rosinenbomber" der Luftbrücke]]
[[Datei:Kartoffelbomber.jpg|mini|rechts|"Kartoffelbomber" der Luftbrücke]]


=== Zuflucht in der Schweiz ===
=== Zuflucht in der Schweiz ===


Das Schweizer Auffanglager wurde Ende 1949 aufgelöst. Wir flogen mit einem dieser Rosinenbomber nach Lübeck. Von dort ging es mit der Bahn nach Basel, obwohl immer noch keine gültigen Papiere vorhanden waren. Endlich in der Schweiz angekommen, wurden wir nochmals unter Quarantäne gestellt.
Das Schweizer Auffanglager wurde Ende 1949 aufgelöst. Wir flogen mit einem dieser Kartoffelbomber nach Lübeck. Von dort ging es mit der Bahn nach Basel, obwohl immer noch keine gültigen Papiere vorhanden waren. Endlich in der Schweiz angekommen, wurden wir nochmals unter Quarantäne gestellt.


Nach kurzen Aufenthalten in verschiedenen Orten wurden wir 1950 in Speicher ansässig.
Nach kurzen Aufenthalten in verschiedenen Orten wurden wir 1950 in Speicher ansässig.


Video 6


 
1951 waren endlich die Formalitäten für die neuen Papiere erledigt und in Speicher eingetroffen. Um sich die Arbeit etwas zu erleichtern, wechselte Mutter von ihrer ersten Arbeitsstelle in der Firma Schefer zur Firma Lanker, die letzten Arbeitsjahre war sie in der Spedition der Strumpffabrik Trèfle angestellt. Das Kommissionieren der Strümpfe aus dem Lager war verantwortungsvoll, verlangte Sachkenntnis und ein gutes Nummerngedächtnis. Stets gab sie ihr Bestes, bei der Arbeit, bei der Erziehung ihrer Kinder und bei der Pflege der verwandtschaftlichen Beziehungen. Gertrude Rodowski starb 1996 im Altersheim Schönenbühl.
 
 
 
 
 
 
 
===== Neue Heimat Speicher (1 m 4 s) =====
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1951 waren endlich die [[media:Formulare_Rodowski.pdf|Formalitäten]] für die neuen Papiere erledigt und in Speicher eingetroffen. Um sich die Arbeit etwas zu erleichtern, wechselte Mutter von ihrer ersten Arbeitsstelle in der Firma Schefer zur Firma Lanker, die letzten Arbeitsjahre war sie in der Spedition der Strumpffabrik Trèfle angestellt. Das Kommissionieren der Strümpfe aus dem Lager war verantwortungsvoll, verlangte Sachkenntnis und ein gutes Nummerngedächtnis. Stets gab sie ihr Bestes, bei der Arbeit, bei der Erziehung ihrer Kinder und bei der Pflege der verwandtschaftlichen Beziehungen. Gertrude Rodowski starb 1996 im Altersheim Schönenbühl.


Meinem Grossvater Johann von Känel war es nicht vergönnt, in die Schweiz zurück zu kehren. Immerhin gelang es einer Tochter und dreien seiner Söhne, mit ihren Familien in die Schweiz zu gelangen und dort in Geborgenheit zu leben. Drei Schwestern und ein Bruder blieben in Westdeutschland, ein Bruder und eine Cousine in Ostdeutschland, was zeigt, wie die Familie durch die Flucht und Vertreibung aus Ostpreussen in alle Winde zerstreut wurde.
Meinem Grossvater Johann von Känel war es nicht vergönnt, in die Schweiz zurück zu kehren. Immerhin gelang es einer Tochter und dreien seiner Söhne, mit ihren Familien in die Schweiz zu gelangen und dort in Geborgenheit zu leben. Drei Schwestern und ein Bruder blieben in Westdeutschland, ein Bruder und eine Cousine in Ostdeutschland, was zeigt, wie die Familie durch die Flucht und Vertreibung aus Ostpreussen in alle Winde zerstreut wurde.
=== Ausstellung im Museum für Lebensgeschichten ===
Unter dem Titel „Gertrude Rodowski-von Känel: Ein Leben – gleichermassen bewegt wie bewegend“ begibt sich das [http://www.museumfuerlebensgeschichten.ch Museum für Lebensgeschichten] vom 19. Mai bis 31. Oktober 2019 mit Gertrude Rodowski-von Känel auf den Weg vom damaligen Ostpreussen ins Appenzellerland.
Begleitend wird eine Ausstellung zur Familie Bächler-Kleinfeld gezeigt.
Anlässlich der Vernissage am Samstag, 18. Mai 2019, hat Hansjörg Müller mit einer eindrücklichen Laudatio in die Ausstellung eingeführt.
Hier die [[media:Laudatio Ausst Rodowski.pdf|Laudatio]]  zum Lesen.


''<small>Text: Klaus Rodowski</small>''
''<small>Text: Klaus Rodowski</small>''
''<small>Textredaktion: Peter Abegglen/Paul Hollenstein</small>''
''<small>Textredaktion: Peter Abegglen/Paul Hollenstein</small>''
''<small>Video: Peter Abegglen</small>''
''<small>Video: Peter Abegglen</small>''
[[Kategorie:Erzählte Geschichte]]
[[Kategorie:Filmaufnahmen]]

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