Textilgewerbe und Textilindustrie
Der Textilbereich hat im Appenzellerland von jeher eine wichtige Rolle gespielt und ist auch heute noch in verschiedenen Gemeinden von etwelcher Bedeutung. Speicher bildet da keine Ausnahme, allerdings: Von den einstmals hier angesiedelten Textilbetrieben von teils beachtlicher Grösse ist nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Die Blütezeit des lokalen Textilgewerbes fällt in die Mitte des 19. Jahrhunderts. 1846 sind in Speicher 30 Web- und 27 Stickfabrikanten, 222 Spuler und 636 Weber belegt. 1836 wurde von Ratsherr Koller auf der Steinegg der erste Jacquardwebstuhl in Betrieb genommen, bis zur Jahrhundertmitte besass er 40 Maschinen in zwei Gebäuden!
Verarbeitungsstufen in Textilgewerbe und -industrie
- Spinnerei: Herstellung von Fäden (Garn, Gespinst), während langer Zeit der bedeutendste Produktionsschritt.
- Zwirnerei: Zusammendrehen von zwei oder mehr Garnen zu strapazierfähigeren Näh-, Stick- und Webgarnen.
- Spulerei: Aufwickeln des Garns auf eine Hülse (Bobine).
- Weberei: Herstellung von Geweben aus zwei sich rechtwinklig verkreuzenden Fadensystemen (Kette oder Zettel und Schuss)
- Stickerei: Verzieren von Stoffen durch Durchziehen oder Aufnähen von Fäden. Die Stickerei wiederum ist in eine Vielzahl von Produktionsschritten aufgeteilt.
- Stricken: Herstellen textiler Maschengebilde aus Garnen durch Fadenumschlingung, wobei die Maschen einer Reihe nacheinander gebildet werden.
- Scherlerei: Abschneiden der durch Weben oder Sticken hervorstehenden Fäden. Die mechanische Scherlerei ist in zwei Arbeitsschritte aufgeteilt, in das Aufschneiden und Abschneiden das Fäden.
Textilveredelung:
- Bleicherei: Entfernen von unerwünschten Verfärbungen, z.B. durch oft wochenlanges feuchtes Auslegen auf Wiesen (> Flurnamen „Bleiche“) oder chemisch mit Natronlauge oder Seifen. Gleichzeitig dient das Bleichen der Vorbereitung für das anschliessende Färben.
- Färberei: Färben ist in jedem Schritt der Textilverarbeitung möglich (Garn, Zwirn, Tuch). Je nach gewünschter Eigenschaft sind verschiedene Technologien möglich.
- Walke: Beim Walken werden Stoffe in warmfeuchtem Zustand durch Schieben, Quetschen und Stampfen zu einem zusammenhängenden Körper verfilzt, dass eine glatte Oberfläche entsteht. Das Gewebe wird geschmeidiger und leicht wasserabweisend.
- Stoffdruck: Auftragen von Farbe auf Stoff mit vielen verschiedenen Technologien.
- Appretieren: Verbesserung von Eigenschaften eines Gewebes, wie Imprägnieren (wasserabweisend machen), Stärken (Griffigkeit, Steifheit verbessern), Mercerisieren (Glanz etc. verbessern) u.v.m.
Textilgewerbe im Laufe der Zeit
Zeitliche Abfolge für Speicher und Appenzellerland
Das Auf und Ab in Textilgewerbe und Textilindustrie ist auch ein Abbild der jeweils herrschenden politischen und wirtschaftlichen Weltlage:
- Baumwollanbau in den USA im 18. Jahrhundert
- Kontinentalsperre 1806 - 1813, 1. Weltkrieg
- „Goldene Zwanzigerjahre“
- Weltwirtschaftskrise ab 1929
- 2. Weltkrieg
- Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer Ende 20. Jahrhundert
Bis Mitte 18. des Jahrhunderts beherrschte die Leinenweberei das Textilgewerbe, vorwiegend für St. Galler Fabrikanten. Flachs und Garn wurden zunächst selber produziert. Als der Bedarf grösser wurde, kam es zu Importen. Schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es etliche Familien, die die Landwirtschaft aufgaben und ihren Lebensunterhalt mit Weben verdienten. Um die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert stieg die Bevölkerung ein erstes Mal rasant an.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts löste die Baumwollweberei für jetzt einheimische Textilhandelsfirmen die Leinenweberei ab. Produziert wurden, zunächst auf Jacquardwebstühlen, Barchent, Mousseline und Baumwolltücher, die reissenden Absatz fanden. Der wirtschaftliche Aufschwung war es, der erneut eine deutliche Bevölkerungszunahme zur Folge hatte.
In Speicher entstanden zusätzlich zu den bestehenden Familienwebern Webereien und weitere Betriebe:
Erste Zwirnerei Ende 18. Jh. im Sägli, später weitere auf Röhrenbrugg, Neppenegg, Blatten und schliesslich 1850 Kohlhalde. 1803 Bleiche mit Walke im Almenweg (heute Gemeindegebiet Teufen). 1827 Färberei im Sägli. 1829 Brennerei im Anker, 1837 Reutenen. 1872 Appretur Zürcher im Kalabinth und weitere.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Aufschwung der Stickerei, eine Folge der Mechanisierung. Etwa Mitte der 1840er Jahre wurden in Speicher die ersten Handstickmaschinen des Appenzellerlandes in Betrieb genommen (Plattstich).
Der zweite Entwicklungsschritt erfolgte mit dem Einsatz der Schifflistickmaschine. (Erfindung von 1863): Die Verlängerung der Arbeitsfäden verkürzte die Unterbrüche durch das Auswechseln und Nachfädeln der Nadeln, damit wurde schnelleres Arbeiten möglich. Die Erfindung der Fädelmaschine im Jahre 1884 machte dann das zeitaufwändige einzelne Einfädeln der vielen Nadeln überflüssig.
Die Stickfabrik in der Kohlhalden wurde 1865 erbaut und produzierte bis 1956.
Bis zum Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts sind viele ehemals erfolgreiche Betriebe verschwunden:
Grossbetrieb Weberei Schefer, Stickereibetrieb Altherr, Appretur Zürcher (später Teppichwäscherei Knecht), Scherlerei Tanner. Halten konnte sich Akris mit einem Fertigungsbetrieb und Lager.
Vom Webkeller zum Modelabel
Das typische Appenzellerhaus erkennt man unter anderem am Webkeller. Er war der Ort, wo die Arbeiter vor der Errichtung von Webereien und Stickereien ihrem Handwerk oblagen und so manchen Familien das Einkommen sicherten. Der in Speicher tätig gewesene Arzt und Literat Gabriel Rüsch vermittelte in seinem 1844 erschienenen Werk "Historisch-geographische Darstellung des Kantons Appenzell, mit besonderer Berücksichtigung seiner Kuranstalten, Alpengegenden und Industrie" eine Vorstellung von den damaligen Verhältnissen. Er erwähnte die Weber und Sticker, die ihre Arbeit meist nicht in Fabriken, sondern in Privathäusern verrichteten, wo man sie in der Regel "mit der Pflege der Tiere, mit Wiesenbau und den Hausgeschäften" verbunden habe. Meist habe sich der Mann mit Weben oder Sticken beschäftigt, die Frau und grössere Kinder mit Spulen und Fädeln.
Mit der Errichtung von Textilfabriken Mitte des 18. Jahrhunderts begann in Speicher eine Entwicklung, die der Gemeinde rund 200 Jahre lang den Stempel aufdrückte. In der Zeit höchster Blüte gingen in Speicher 30 Web- und 27 Stickfabrikanten ihren Geschäften nach, wobei die bei ihnen im Brot stehenden Arbeiter ihr Handwerk in der Mehrzahl dennoch als Nebenerwerb zu Hause in den Webkellern und Sticklokalen ausübten. Aus textilgewerblicher Warte zu erwähnen sind auch Betriebe wie Zwirnereien, Bleichereien, Färbereien Brennereien und Appreturen, die allesamt auch in Speicher vertreten waren.
Familiennamen wie Schläpfer, Altherr oder Schefer sind eng verbunden mit der Textilindustrie zu ihren besten Zeiten. Namentlich die 1883 gegründete und rund hundert Jahre später verschwundene Weberei Schefer in der Hinterwies war einer der Pfeiler der ortsansässigen Industrie und beschäftigte zeitweise über 200 Männer und Frauen.
Kaum noch bekannt ist die Existenz einer Stickfachschule für Handmaschinen sowie einer Nachstickschule im ehemaligen Stickereigebäude von Gustav Altherr vis-à-vis des Bahnhofs (heute Druckerei Lutz). Zwischen 1911 und 1924 wurde dort Unterricht erteilt. Sie hätte, abgestützt auf einen Entscheid des Stimmvolks, einen jährlichen Beitrag erhalten, der aber erst ein Jahr vor der Schliessung erstmals beansprucht werden musste. Finanziell unterstützt wurde die Einrichtung auch vom Kanton und gar vom Bund.
Text: Peter Abegglen, 2019
Quelle: WIKIPEDIA, hist. Lexikon der Schweiz, Martin Hüsler,